Das EigenArt-Archiv: Rückblicke auf das Veranstaltungsjahr 2013

OpenAirKino: MAN ON WIRE - Der Drahtseilakt

Regie: James Marsh | GB 2008 | 94 Minuten | englisch/französisch, mit Untertiteln | FSK: freigegeben ab 6 Jahre

Am 7. August 1974 balancierte ein Franzose namens Philippe Petit auf einem Drahtseil in 417 m Höhe zwischen den Twin Towers des World Trade Centers in New York, den beiden höchsten Türmen der damaligen Welt. Nachdem er eine Stunde lang ohne Netz oder Sicherheitsgurt auf dem Drahtseil tanzte, wurde er festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Bis zu diesem Moment hatte niemand außer Petit und seinen Komplizen, mit denen er diesen illegalen 'Coup' monatelang zusammen vorbereitet hatte, je etwas davon erfahren.

James Marshs Dokumentarfilm erweckt Petits unglaubliches Abenteuer wieder zum Leben durch das Zeugnis aller beteiligten Konspiranten, die ein einmaliges und wunderschönes Kunststück schufen, das als «das künstlerische Verbrechen des Jahrhunderts» in die Geschichte einging.

Regisseur James Marsh zu seinem Film:

Ich habe den Verstand eines Kriminellen“ – Mit diesen Worten empfing mich Philippe Petit, als ich ihn das erste Mal traf. Dann zeigte er mir, wie er mit einer Ausgabe von „People Magazine“ einen Menschen umbringen könne und bevor er ging, klaute er meine Brieftasche. Er war wirklich ein außergewöhnlicher Mensch mit einer besonderen Sicht auf die Welt. Nicht zuletzt deshalb, weil er sie schon aus Höhen und Perspektiven gesehen hatte wie nie ein Mensch zuvor.

Und seine Geschichte ist wirklich eine der ältesten Geschichten überhaupt. Die des Helden auf der Suche nach Herausforderungen und einem scheinbar unerreichbaren Ziel. Schon als jugendlicher Seiltänzer in Frankreich – noch vor dem tatsächlichen Bau des World Trade Centers – träumte er von dem waghalsigen Plan, ein Seil zwischen die Türme zu spannen und dann 417 Meter über der Erde zur Freude der Passanten darauf zu tanzen. Seine Vorhaben erschienen allen unmöglich und sein Plan klang gar wie ein Todeswunsch. Aber eigentlich war es gerade umgekehrt – so wie es seine Freundin Annie in dem Film ausdrückt: „Er wollte nicht weiterleben, wenn er diese Türme nicht bezwingen konnte ... sie schienen extra für ihn gebaut worden zu sein.

Ursprünglich ging ich davon aus, einen Film über dieses sagenhafte Projekt zu drehen, ich hatte nicht damit gerechnet, dass daraus ein richtiges menschliches Drama werden würde, eine Komödie von Irrtümern, eine Liebesgeschichte, eine Geschichte über Freundschaft und ihre Grenzen, eine Satire über Autorität und eigenmächtige Regeln.

Der Reichtum dieser Erzählung entsteht durch Philippe selbst, durch seine unendlich große Fähigkeit zur Dramatisierung und seine Unfähigkeit, sich hinzusetzen und die Geschichte in Ruhe zu erzählen; stattdessen läuft er herum und wirkt dadurch viel natürlicher. Die Erinnerungen seines alten Freundes Jean-Louis und seiner früheren Freundin Annie sind nicht weniger dramatisch und überraschend offen angesichts der Konflikte und Widerstände dieses Abenteuers. Andere Mitwirkende gaben eine ganze Reihe illegaler Aktionen zu und ihre große Sorge um Philippes Leben und ihr schwindendes Vertrauen in das Unternehmen. Aber diejenigen, die dann schließlich oben auf den Türmen mit dabei waren, stimmten mit seinem zuverlässigen Helfer Jean-François überein: „Wir wussten alle, dass er fallen könnte ... wir haben daran gedacht, aber wir haben es nie geglaubt.

Selbstverständlich ist der Film auch ein Spiegel New Yorks und der Vereinigten Staaten aus einer längst vergangenen Ära. Die Watergate-Affäre erreichte ihren Höhepunkt genau in der Woche, in der Philippe Petit zwischen den beiden Türmen balancierte; einen Tag nach seinem Abenteuer trat Präsident Nixon zurück. 1974 gab es in New York noch deutlich mehr Schmutz, mehr Gesetzlosigkeit und Gefahr. Man kann sich heutzutage kaum vorstellen, dass Polizisten, Richter und Politiker so reagieren würden wie 1974: Damals applaudierten sie Philippe zu seiner Heldentat!

Und noch weniger vorstellbar ist der Gedanke, dass eine Gruppe Französisch-sprechender Typen am John-F.-Kennedy Flughafen mit 1.000 Kilo Gepäck durchkommt, in dem sich Werkzeug, Seile, Messer sowie Pfeil und Bogen befinden, die sich dann an einem so berühmten Gebäude New Yorks mit Kameras und gefälschten Ausweisen herumtreibt und nur auf die Möglichkeit wartet, sich unerlaubt Zutritt zu verschaffen – und damit auch noch ungestraft davonkommt. Aber – um noch einmal Jean-François zu zitieren: „Es war vielleicht illegal ... aber keinesfalls bösartig oder niederträchtig.“ Diesen Unterschied sollte man sich merken.

 

Ein bemerkenswerter und positiver Film - da bleibt dem Zuschauer in ehrfürchtiger Bewunderung der Mund offen stehen.” (The Sunday Telegraph)

Philippe Petit

Der französische Hochseilartist Philippe Petit wurde am 13. August 1949 geboren. Weltweit bekannt wurde er durch seinen aufsehenerregenden – illegalen – Drahtseilakt zwischen den Türmen des World Trade Centers in New York City am 7. August 1974.

Die Idee zu der Aktion kam Philippe Petit im Wartezimmer seines Zahnarztes, wo er einen Artikel über die Zwillingstürme las, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in der allerersten Bauphase befanden. Sechs Jahre lang sammelte er alle Informationen, die er über die Türme kriegen konnte. Unter dem Vorwand, Journalist zu sein, interviewte er den WTC Bauleiter Guy F. Tozzoli. Am Abend des 6. August 1974 verschafften er und eine Gruppe Helfer sich Zugang zu den immer noch nicht fertiggestellten Gebäuden und brachten einen Balancierstab, Schnüre, Werkzeug, 75 Meter Stahlseil sowie Pfeil und Bogen auf das Dach der Türme.

Am 7. August, kurz nach 7.00 Uhr morgens, begann Petit seinen etwa einstündigen Tanz über das 1 Zoll starke Drahtseil. Tausende Menschen im Finanzbezirk verharrten und verfolgten das Schauspiel, das sich 417 Metern über ihren Köpfen abspielte. Philippe Petit wurde nach der Aktion festgenommen und vor Gericht gestellt, allerdings wurden sämtliche Anklagepunkte fallengelassen. Er wurde eingehend von der Port Authority of New York andNew Jersey als Eigentümerin des WTC befragt, wie er denn trotz der Sicherheitsvorkehrungen auf das Dach der Gebäude gelangen konnte! Als Dank bekam er später eine Dauerkarte für die Aussichtsplattform des World Trade Centers überreicht.

Noch bevor das World Trade Center am 11. September 2001 zerstört wurde, schrieb Philippe Petit die Erinnerungen an seine Aktion nieder: „To reach the clouds: My high wire walk between the Twin Towers“ wurde 2002 veröffentlicht. Auf deutsch erschien das Buch unter dem Titel Über mir der offene Himmel. Szenen aus dem Leben eines Hochseilkünstlers. bei Urachhaus, Stuttgart 1998, ISBN 3-8251-7209-0.

Auch in Deutschland konnte man sein Talent bewundern: Am 12. Juni 1994 sorgte er für einen Höhepunkt während der 1200-Jahr-Feier der Stadt Frankfurt am Main. In 60 bis 70 Metern Höhe spannte er ein Seil zwischen Paulskirche und Dom und vollführte darauf einen dreißigminütigen Hochseillauf und stellte wichtige Ereignisse aus der Frankfurter Geschichte mimisch dar. Begleitet wurde die Vorführung vom Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt des Hessischen Rundfunks.

Philippe Petit lebt heute in den USA.

Die Vorführung wird duchgeführt mit dem bewährten Team des Mobilen Kino Niedersachsen.